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Italien lässt Roma im Stich: „Situation ist katastrophal

31/12/2021 11:00

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Italien lässt Roma im Stich: „Situation ist katastrophal

Das Roma-Viertel bei Reggio Calabria ist eine rechtsfreie Zone. Dort sorgen Freiwillige für eine medizinische Grundversorgung. Vom Staat gibt es keine Hilfe....

PREKÄRE ZUSTÄNDE
Italien lässt Roma im Stich: „Situation ist katastrophal

 

Von Dominik Straub

31.12.2021 - 10:00 Uhr

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Arghillà: öde Wohnblocks, schlechte Straßen und Müll an jeder Ecke. © Dominik Straub

Das Roma-Viertel bei Reggio Calabria ist eine rechtsfreie Zone. Dort sorgen Freiwillige für eine medizinische Grundversorgung. Vom Staat gibt es keine Hilfe.

Reggio Calabria – Die Behörden hatten für Arghillà mal hochfliegende Pläne gehabt: Das Quartier sollte zum „Beverly Hills“ von Reggio Calabria werden, mit Villen, Parks, breiten Boulevards und edlen Restaurants. Auch Banken, Versicherungen und andere Finanzdienstleistungen sollten dort hin, und außerdem ein Campus der Universität.

 

Von der Lage her war die Idee auch bestechend: Arghillà befindet sich auf einer natürlichen Terrasse am nördlichen Stadtrand von Reggio Calabria mit einem grandiosen Blick auf die Meerenge von Messina, auf das gegenüberliegende Sizilien und auf den derzeit eingeschneiten, rauchenden Ätna. Selbst in Italien gibt es nur wenige Orte mit einem derart spektakulären Panorama. Der Traum ist aber geplatzt, wie so oft im armen und von Rom vernachlässigten Kalabrien. Statt der Villen wurden Anfang der 70er Jahre öde Wohnblocks mit Sozialwohnungen hochgezogen. Deren Bauqualität war von Anfang an dürftig, und aufgebessert wurden die Gebäude in der Folge auch nie. Nach etwa 30 Jahren waren die Blocks derart marode, dass die dort Wohnenden von der Stadtregierung von Reggio Calabria umgesiedelt wurden.

 

Roma in Reggio Calabria: „Situation ist katastrophal“

An ihrer Stelle zogen vom Jahr 2001 an Angehörige der Roma-Minderheit ein. Heute leben etwa 1000 gemeldete Roma-Familien in dem Quartier, was etwa 4000 Personen entspricht. Wie viele es genau sind, weiß niemand mit Sicherheit: Viele sind nicht gemeldet, oft werden Strom-, Gas- und Wasserrechnungen nicht bezahlt. Neben den Romnja und Roma leben schätzungsweise 2000 weitere Menschen in Arghillà.

 

Viele Gebäude sind einsturzgefährdet, in den mit Schlaglöchern übersäten Straßen türmen sich zum Teil meterhohe Müllberge. „Die Situation ist katastrophal“, sagt der Mediziner Giancarlo Biazzo. „Die Kinder gehen kaum zur Schule, zwölf- und 13-jährige Mädchen werden schwanger, fast alle ,ragazzi‘ (Jungs, Anm. d. Red.) rauchen und konsumieren Drogen.“ Die meisten Roma-Familien lebten vom Grundeinkommen und vom Kindergeld – oder auch von Kleinkriminalität wie Diebstahl und Prostitution. Die Menschen werden von den Behörden sich selbst überlassen: „Der Staat hat sich abgemeldet aus Arghillà, man sieht kaum je einen Polizisten oder einen Carabiniere.“ Wenn Kalabrien an der Südspitze Italiens – nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial – Peripherie ist, dann ist Arghillà die Peripherie dieser Peripherie.

 

Giancarlo Biazzo ist pensionierter Arzt und ehemals Chef einer psychiatrischen Klinik in Reggio Calabria. Jetzt leitet er einen kleinen, von Freiwilligen getragenen medizinischen Stützpunkt in der Trost- und Gesetzlosigkeit des Roma-Viertels. Denn für die „Unsichtbaren von Arghillà“ existiere auch keine staatliche Gesundheitsversorgung. „Sie haben in der Regel keine Identitätskarte, keine Rechte, keine Pflichten – und vor allem auch keine staatliche Krankenversicherungskarte. Damit sind sie vom öffentlichen Gesundheitswesen ausgeschlossen“, betont Biazzo.

 

„Ambulatorio“ in Arghillà: Viele Roma kommen, weil sie nicht lesen und schreiben können

Mit Biazzos „ambulatorio“ versucht seine Truppe nun, die Situation für die Menschen in Arghillà wenigstens etwas zu verbessern, für den abwesenden Staat einzuspringen. Das „ambulatorio“ öffnete seine Türen im März, mitten in der Pandemie. Es befindet sich in einem ehemaligen kommunalen Gemeinschaftszentrum für die Quartiersbevölkerung, das längst verlassen ist und dem Verfall überlassen worden war. Jetzt sind die Räume wieder hell und sauber, an den Wänden hängen bunte Bilder und Poster und im Empfangsraum steht ein Weihnachtsbaum.

In der Tagesklinik arbeiten außer Biazzo noch zehn Ärztinnen und Ärzte, ebenfalls unentgeltlich. Hinzu kommen einige Verwaltungskräfte, die einen bescheidenen Lohn beziehen. Die meisten Mediziner:innen sind wie Biazzo pensioniert, einige sind noch erwerbstätig und versehen ihren Dienst im „ambulatorio“ zusätzlich zur täglichen Arbeit in einer Klinik oder Privatpraxis.

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Der entspannte Blick hinaus aufs Tyrrhenische Meer... . © Gianluca Chininea/af

Die medizinischen Leistungen decken ein breites Spektrum ab: In dem kleinen Gesundheitszentrum arbeiten Ärztinnen und Ärzte aus den Bereichen Inneres, Gastroenterologie, Kardiologie, Psychiatrie und Pädiatrie; außerdem gibt es eine Demenz-Sprechstunde, Schmerztherapie und Ernährungsberatung. Sämtliche Leistungen sind kostenlos. „Oft kommen die Bewohner auch mit nicht-medizinischen Problemen zu uns: Viele können nicht lesen und schreiben und haben Schwierigkeiten mit behördlichen Formularen, die wir dann mit ihnen ausfüllen“, erzählt Biazzo. Es gebe kaum einen sozialen Notstand oder ein persönliches Problem, mit dem das Zentrum nicht konfrontiert wird. Die Qualität der medizinischen Leistungen hat sich inzwischen weit über das Quartier hinaus herumgesprochen: Patient:innen kommen nun auch aus den „besseren Quartieren“ von Reggio Calabria.

 

„Ambulatorio“ in Arghillà: „Gesundheit nicht einfach Abwesenheit von körperlichen Krankheiten“

Finanziert wird das Projekt durch Spenden – von Behandelten, von der Anwohnerschaft und von Bürgerinnen und Bürgern, die das „ambulatorio“ im Rahmen der „5 per mille“ berücksichtigen: In Italien können fünf Promille der Einkommenssteuer an wohltätige Organisationen statt an den Fiskus überwiesen werden. Für Renovation und Einrichtung der Nachbarschaftsklinik hatte außerdem eine Mailänder Stiftung 50 000 Euro bereitgestellt.

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Schafe an ihrem Hang.© Gianluca Chininea/af

Aber natürlich fehlt Geld doch an allen Ecken und Enden – etwa für eine Hausverwaltung, die sich auch um die Grünfläche rund um das „ambulatorio“ kümmert. Und so nimmt der 70-jährige Biazzo eben nach Dienstende, wenn nötig, selber die Motorsense in die Hand, um das wuchernde Grün in Zaum zu halten.

Vor dem Eingang hat Biazzo zusammen mit Giovanni Votano, dem Präsidenten des Quartierkomitees, auch einen Gemüsegarten angelegt und Bäume gepflanzt. In dem Garten können Kranke und deren Familien unter Anleitung von Votano ihre eigenen Beete kultivieren – Ausdruck des ganzheitlichen Medizinverständnisses, dem sich das Team verpflichtet fühlt. „Wir definieren Gesundheit nicht einfach als Abwesenheit von körperlichen Krankheiten. Unser Anliegen ist das ,benessere‘, also das Wohlergehen der Menschen. Und dieses hängt auch von der Umwelt und von den sozialen Umständen ab, in denen man lebt“, erklärt Biazzo. Gartenarbeit und gesundes, frisches Gemüse könne in einem extrem schwierigen sozialen Umfeld wie Arghillà einen Beitrag leisten, das psychische Wohlergehen und damit auch die körperliche Gesundheit der Menschen zu verbessern.

Kalabrien: Eine permanente rote Zone

In Italien ist die Region Kalabrien das ewige Schlusslicht. In fast allen Bereichen. Nicht einmal das staatliche Gesundheitssystem dort genügt europäischen Minimalstandards. Man muss dort auch gar nicht einer seit Jahrzehnten diskriminierten ethnischen Minderheit wie den Roma von Arghillà angehören, um sich der elementarsten medizinischen Dienstleistungen beraubt zu sehen. Und in Kalabrien sind auch keine besonders hohen Covid-Fallzahlen erforderlich, damit die Behörden strenge Restriktionen verhängen: Im November 2020 wurde Kalabrien zur „roten Zone“ erklärt, obwohl die knapp zwei Millionen zählende Bevölkerung der Region landesweit am wenigsten Infizierte und Tote zählte. Und auch heute ist Kalabrien wieder „gelb“ – erneut mit den tiefsten Fallzahlen des Landes.

Der Grund sind die fehlenden Kapazitäten der Krankenhäuser: Von den 9000 Intensivbetten Italiens befinden sich weniger als zwei Prozent in Kalabrien – obwohl dort 3,2 Prozent der italienischen Bevölkerung leben. „Bei uns würde ein Infektionsherd in einem großen Wohnblock bereits ausreichen, um das ganze Gesundheitssystem zusammenbrechen zu lassen“, klagte der Schriftsteller und Regisseur Francesco Villari aus Reggio Calabria unlängst. Praktisch für jede Untersuchung und Behandlung gibt es lange Wartelisten. Wenn man in Kalabrien krank wird, höre man deshalb immer den gleichen Rat, so Villari: „Geh in eine andere Region, um dich behandeln zu lassen.“ Was jedes Jahr auch Tausende tun.

Die offiziellen Zahlen belegen die Misere auch, ohne sie überhaupt beschönigen zu wollen: Kalabrien landet in allen nationalen Gesundheitsstatistiken auf dem letzten Platz. Und dies obwohl die Zentralregierung in Rom das kalabrische Gesundheitswesen wegen Unterwanderung durch die ’Ndrangheta (die festland-italienische Mafia) und wegen Vetternwirtschaft schon vor über zehn Jahren unter das Regime eines Sonderkommissars gestellt hatte. Die sich ablösenden Kommissare haben zu einem Kahlschlag ausgeholt: In den vergangenen zehn Jahren wurden in Kalabrien 3700 Arzt- und Pflegestellen abgebaut, allein in der bevölkerungsreichen Metropolregion Reggio Calabria wurden fünf Krankenhäuser geschlossen.

Das Resultat: An der Südspitze Italiens stehen nur noch 2,5 Krankenhausbetten pro 1000 Personen zur Verfügung. Im Landesdurchschnitt sind es vier. Seit den Regionalwahlen vom Oktober untersteht das Gesundheitswesen dem neugewählten Präsidenten Roberto Occhiuto von der Berlusconi-Partei Forza Italia. Diese Partei hatte bei der Zerstörung der kalabrischen Sanität an vorderster Front mitgewirkt. (Dominik Straub)

Das „Ambulatorio“ in Arghillà springt in Italien für den Staat ein

Der ganzheitlichen Medizin hat sich auch Lino Caserta verschrieben, Leiter und Mitbegründer des Gesundheitszentrums von Pellaro im Süden von Reggio Calabria. Seine Tagesklinik existiert schon seit etwas mehr als zehn Jahren, basiert ebenfalls auf der unentgeltlichen Arbeit der meisten seiner Ärztinnen und Ärzte und hat in diesem Frühling dem „ambulatorio“ von Arghillà Pate gestanden. Entstanden ist das Modell der „sozialen Nachbarschaftsmedizin“ aus einem Forschungsprojekt über Epidemiologie und Übergewicht, das in Kalabrien – wie in den meisten armen Regionen der Erde – ein großes Problem in der Bevölkerung darstellt. „Nach einigen Jahren der Forschungen sagten wir uns: Jetzt müssen wir etwas dagegen tun – und so ist unser ,ambulatorio‘ entstanden“, erklärt der Gastroenterologe Caserta.

 

„Wir machen ganz einfach das, was eigentlich der Staat machen müsste“, verdeutlicht Caserta. Tatsächlich lassen sich wegen der ineffizienten und von der ’Ndrangheta unterwanderten Staatsmedizin Tausende in anderen Regionen behandeln, und die Regionalregierung bezahlt dafür jährlich 350 Millionen Euro, davon 70 Millionen Euro allein an die reiche Lombardei (siehe nebenstehenden Hintergrund). Die beiden „ambulatori“ machen es besser und günstiger: In Arghillà und Pellaro werden pro Jahr 27 000 Untersuchungen und Behandlungen vorgenommen – bei einem Gesamtbudget von rund 200 000 Euro. Das sind weniger als acht Euro pro Intervention. Und als Zugabe gibt es in Pellaro jeden Sonntag ein Klassikkonzert – für Kranke und auch alle anderen. Natürlich gratis.

 

Von den staatlichen Behörden haben die beiden Gesundheitszentren bislang keine Hilfe bekommen – im Gegenteil sogar: „Die Gesundheitsdirektion der Region Kalabrien hat uns einmal für einige Monate geschlossen, wegen angeblich fehlender Bewilligungen“, erzählt Caserta. Ein Richter habe dann die Wiederöffnung des Zentrums verfügt: Die Beanstandungen waren aus der Luft gegriffen. „Die inkompetente und mit der ’Ndrangheta verbandelte Politik fühlt sich eben von Initiativen wie der unseren bedroht. Denn wir erinnern die Menschen daran, dass es auch anders geht: innovativ, solidarisch und legal“, betont Caserta. (Dominik Straub)

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